Data-Driven Health (DEAL)

Der demographische Wandel, die Digitalisierung und der medizinisch-technische Fortschritt stellen das Gesundheitswesen vor komplexe Herausforderungen. Der Versorgungsbedarf verändert sich sowohl quantitativ, als auch qualitativ. Zum einen rückt „der mündige Patient“ zunehmend in den Fokus, wodurch beratende und unterstützende Versorgungsleistungen an Bedeutung gewinnen. Zum anderen verändert der medizinische, aber vor allem auch der technologische Fortschritt die Arbeitsprozesse in den Gesundheitsfachberufen.

Die Pflege und therapeutische Versorgung von Patient_innen wird komplexer und es entstehen neue Anforderungen an die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Durch datengestützte Gesundheitsforschung ist eine stärkere Evidenzbasierung und die Verbesserung der individuellen Versorgung zu erwarten. Ziel des Projektes DEAL ist der nachhaltige Ausbau von Strukturen und Expertise in der datengestützten und -getriebenen Gesundheitsforschung an der Jade Hochschule. Durch Digitalisierung, gezielte Erhebung und Verwendung von Gesundheitsdaten kann die gesundheitliche Versorgung und Pflege unter der aktuellen demographischen Entwicklung verbessert werden. In acht Arbeitspaketen (AP) mit Anwendungsbezug werden Fragestellungen aus den Bereichen Medizintechnik, Hörforschung, Hebammenwissenschaft, Logopädie und Pflege- und Gesundheitswissenschaft bearbeitet. Zusätzlich werden in fünf Querschnittsbereichen mit Servicecharakter (S) projektübergreifende Themen im interdisziplinären Zusammenwirken der Projektbeteiligten bearbeitet und verstetigt.

AP A: Detektion von Mittelohrpathologien bei Neugeborenen – Diagnoseverfahren, Modelle, Abläufe und Zuständigkeiten

Zur Erkennung angeborener Hörstörungen wird seit vielen Jahren in den ersten Lebenstagen von Neugeborenen ein Hör-Screening durchgeführt. Wird ein Kind als kontrollbedürftig eingestuft, erfolgt eine Nachmessung und ggf. eine umfassende Diagnostik. Von den in der ersten Untersuchung als kontrollbedürftig eingestuften Kindern liegt nach Erfahrungswerten bei in etwa 25‑30 % jedoch „nur“ eine Funktionsstörung des Mittelohrs vor, die idealerweise bereits beim Kontrolltest diagnostiziert werden könnte. Ziel des Arbeitspaketes ist das Vorantreiben und die Erweiterung eines geeigneten Diagnoseverfahrens. Dazu werden auch datenbasierte und Modellierungsansätze integriert. Zusätzlich soll mit einer Bedarfsanalyse abgeklärt werden, wie sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit aus Sicht der Beteiligten darstellt (u.a. Screeningzentrale NHS Nordwest) und wo Verbesserungspotenziale für eine frühzeitige Versorgung liegen.

AP B: Diagnose- und Entscheidungsfindung in der Latenzphase unter Berücksichtigung der S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin

Für die Eröffnungsphase der Geburt hat sich die Unterteilung in Latenzphase und aktive Eröffnungsphase durchgesetzt und Einzug in Leitlinien, wie der S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin von 2020 gehalten. Mehr als die Hälfte der Frauen sucht bereits während der Latenzphase die Geburtsklinik auf, weil sie bereits in dieser frühen Geburtsphase professionelle Unterstützung benötigen. Es ist jedoch zu vermuten, dass nicht allein vom geburtshilflichen Befund und Bedarf der Schwangeren abhängt, welche Betreuung die Schwangere in dieser Geburtsphase erfährt, sondern strukturelle Rahmenbedingungen und klinische Beschränkungen, wie z. B. aufgrund er COVID-19-Pandiemie hier Einfluss nehmen. Ziel des Arbeitspaketes ist die Untersuchung, inwieweit die Leitlinien-Empfehlungen bei Hebammen und Geburtshelfer_innen Akzeptanz finden und praktisch Einzug in die klinische geburtshilfliche Versorgungspraxis erfahren. Die Ergebnisse der Studie werden zur Entwicklung einer Informationsbroschüre für Schwangere genutzt und mit Expertinnen und Nutzerinnen evaluiert.

AP C: Eingangs-Screening in Schule und Pflege

Die Gesundheit von Kindern im Einschulungsalter wird von Ärzt_innen des öffentlichen Gesundheitsdienstes untersucht. Die in dieser Untersuchung eingebundenen Überprüfungsmethoden für die Hörfähigkeit sind schwellenbasiert und daher wenig geeignet, das Hörvermögen in typischen Hörsituationen in der Grundschule, vorwiegend Sprache im Hintergrundgeräusch, einschätzen zu können. Eine Möglichkeit zur Reformation der bisherigen Methode ist die Anwendung des automatischen Testverfahrens Sound Ear Check (SEC), das zurzeit im Rahmen einer Arbeitsgruppe der European Federation of Audiology Societies unter Federführung der KU Leuven, Belgien, evaluiert wird. In diesem sprachunabhängigen Test werden Alltagssignale im Störgeräusch verwendet. Zusätzlich könnte der SEC in einem App-basierten und automatisierten Verfahren zur Früherkennung von Hörstörungen bei pflegebedürftigen Menschen eingesetzt werden. Aufgrund der engen Verknüpfung zwischen dem Hören, dem Sehen und der kognitiven Leistungen im Alterungsprozess sollte ein mögliches Screening-Verfahren diese drei Bereiche abdecken. Ziele für das Arbeitspaket sind zum einen die Untersuchung der Verwendbarkeit des SEC und zum anderen die Kosten-Nutzen-Analyse eines Screenings für Demenz-Status, Hör- und Sehvermögen unter Einbezug der nutzerorientierten Bedürfnisse.

AP D: Lebensalltag: Individualisierte Hördiagnostik im Alltag

Wenn es darum geht, die subjektive Perspektive von Menschen in Bezug auf verschiedene gesundheitliche Konditionen zu erfassen, werden häufig Fragebögen eingesetzt. Die Anwendung ist einfach, aber nicht ohne Kritik, da es zu Verzerrungen durch Gedächtniseffekte und künstlich erzeugte Berichtssituationen kommen kann. Um dergleichen zu vermeiden, kann eine Methode eingesetzt werden, mit der Menschen ihre Wahrnehmungen in ihrem Alltag mit häufiger Wiederholung und über einen längeren Zeitraum bewerten: Ecological Momentary Assessment (EMA). Die technologische Entwicklung, insbesondere die weit verbreitete Verwendung von Smartphones und deren steigende Rechen- und Speicherkapazität, treibt den Einsatz von EMA auch in der Hörforschung voran. Ziel des Arbeitspaketes ist es, Daten aus verschiedenen Studien unter besonderer Berücksichtigung von methodischen Aspekten diverser EMA-Designs sowie der Personalisierungsoptionen in der Hörrehabilitation auszuwerten und in der Fachöffentlichkeit zu diskutieren.

AP E und F: Pflege und Technik

Der Zugang von pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen ist in der Praxis durch unterschiedliche Faktoren, wie z.B. institutionelle Barrieren, Zeitmanagement und dem fehlenden Zugang zu bedienungsfreundlichen technischen Systemen erschwert. Zusätzlich findet die Pflegedokumentation häufig noch papierbasiert und/oder am PC statt, obwohl genau diese Zeit im Rahmen des Versorgungsprozesses für patient_innennahe Aufgaben wichtig wären. Trotz Forschungsförderung vieler Technologien, sind technische Ansätze zur Entlastung und Unterstützung der Pflegefachkräfte bis heute noch nicht etabliert und eine flächendeckende Verbreitung und Nutzung steht gegenwärtig noch aus. Mit dem Einbezug von potentiellen Nutzer_innen während eines partizipativen Entwicklungsprozesses kann eine bessere Einbindung technischer Systeme in der Praxis erreicht und so die Digitalisierung des Gesundheitswesens vorangetrieben werden. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist dabei die Automatisierung der Pflegedokumentation zur Entlastung der Pflegefachkräfte und Steigerung von zeitlichen Ressourcen für die evidenzbasierte Entscheidungsfindung und den direkten Patient_innenkontakt. Ziel der Arbeitspakete ist die Analyse von Anforderungen an evidenzbasierte Entscheidungsunterstützungs- und Informationssysteme für die pflegerische Arbeit und die partizipative Entwicklung und Evaluation einer automatisierten Pflegedokumentation auf Grundlage technikgestützter Aktivitätsanalyse. Dazu sollen KI-Methoden und -Modelle zur echtzeitfähigen Segmentierung der Daten auf Basis bildgebender Sensoren verwendet werden.

AP G: Technikbasierte Evidenz in der Logopädie

Bei Stimm- und Sprechstörungen kann eine Vielzahl von Maßen (z.B. Lautstärke, Prosodie, Heiserkeit, Verständlichkeit) für die Differentialdiagnose verwendet werden. Die logopädische Diagnostik erfolgt in der Praxis zumeist mithilfe fragebogenbasierter Verfahren oder semi-automatisiert und ist damit von der subjektiven Einschätzung des Untersuchenden abhängig, was eine hohe Variabilität in der Analyse zur Folge hat. In der Berechnung der Maße werden bisher in der Regel keine automatischen Verfahren zur Detektion von Stimm- und Sprechstörungen verwendet. Ein Grund hierfür ist die Komplexität in der Anwendung technischer bzw. digitaler Verfahren. Ziel des Arbeitspaketes ist deshalb die Entwicklung einer automatischen, datenschutzkonformen Detektion stimmlicher bzw. artikulatorischer Parameter zur Diagnostik und Verlaufsbeobachtung individuell ausgerichteter logopädischer Interventionen. Angestrebt ist die Entwicklung von anwenderfreundlichen Werkzeugen (Toolbox) für den technikbasierten Nachweis von Evidenz in der Logopädie.

AP H: Workflowoptimierung präoperative Phase

Ökonomische Aspekte spielen in Kliniken eine immer größere Rolle. Im perioperativen Bereich gehört der Operationssaal mit Minutenkosten von 30 € - 120 € zu den teuren Bereichen in der Patientenversorgung. Gleichzeitig ist dies aber der profitabelste Bereich der chirurgischen Versorgung. Daher ist die automatisierte Prozesssteuerung in diesem Bereich auch von größtem wirtschaftlichem Interesse. Ein limitierender Faktor ist aktuell die automatisierte Erfassung und Analyse von Daten, die eine kontinuierliche Anpassung der Abläufe in Echtzeit zulässt. Dazu sind auch Lösungen notwendig, die den Status von primär nicht im Krankenhausinformationssystem vorhandenen Daten erfassen können. Beispielsweise ist für die optimale Planung der Anästhesieeinleitung eine Information notwendig, ob der Patient bereits die OP-Schleuse passierte. Über dedizierte Sensorik kann diese Information erhoben und über Netzwerke an die Auswerte- und Informationssoftware übergeben werden. Ziel des Arbeitspaketes ist Entwicklung von Identifikationsmethoden für relevante Daten und Untersuchung der automatisierten Erfassung selbiger.

S1 Datenakquise

Im Rahmen der verschiedenen Arbeitspakete von DEAL spielen Daten, die einerseits direkt am Patienten durch diagnostische Geräte erfasst werden, aber auch Zustandsinformationen verschiedenster Datenquellen, die im pflegerischen und therapeutischen Prozess in der behandelnden Einrichtung anfallen, eine bedeutende Rolle. Diese erfassbaren Informationen müssen sicher und konform mit dem Datenschutz erfasst und zu einer zentralen Datenbank übermittelt werden. In diesem Querschnittsbereich soll eine Sensor-Toolbox entwickelt werden, die eine Verbindung verschiedenster Sensoren, Geräte und anderer Datenquellen sowie eine flexible und sichere Kommunikation ermöglicht.

S2 Datenmanagement

Innerhalb der Arbeitspakete des Projektes DEAL werden sowohl Sensor-Daten als auch qualitative und quantitative Daten in verschiedenen Formaten Daten erhoben und weiterverarbeitet. Im Querschnittsbereich Datenmanagement sollen Werkzeuge zum Daten- und Wissensmanagement gesichtet, bei Bedarf weiterentwickelt und bereitgestellt werden. Dabei wird eine möglichst kleine Anzahl an eingesetzten Technologien angestrebt, um Synergieeffekte zu nutzen und Reibungsverluste zwischen Entwicklung und Softwarebetrieb zu vermindern.

S3: Auswertung

In der Bearbeitung jeder empirischen Forschungsfrage kommt der Auswahl geeigneter Auswertungsmethoden im qualitativen und quantitativen Bereich eine zentrale Rolle zu, mit der sich Wissenschaftler_innen von der Planung bis zur Publikation beschäftigen. Von umfassenden Lehrwerken über dokumentierte Statistiksoftware bis zu Plattformen für die aktuelle biometrische Forschungsliteratur gibt es ein sehr großes Angebot. In der Praxis ist die Orientierung vielfach problematisch, sodass an Universitäten oftmals Biometriker_innen und Medizinstatistiker_innen in einem gewissen Umfang für Beratungsleistungen zur Verfügung stehen. Bei den qualitativen Forschungsprojekten ist insbesondere der Austausch zu anderen Forscher_innen im Rahmen des Auswertungsprozesses hilfreich, um ein breites Feld an Meinungen und Erfahrungen einzubringen. Aufgrund dessen ist der Querschnittsbereich als kollegiale, niedrigschwellig zugängliche Beratungsdienstleistung für quantitative und qualitative Auswertungen konzipiert.

Hinzu kommen noch Methoden aus dem Bereich des maschinellen Lernens als Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence, AI), je nach Anwendung explizit auch mit Bezug zu Raumdaten (Spatial AI). Dabei kann auf CoSAIR [www.cosair.de] zurückgegriffen werden, eine für die Jade Hochschule maßgeschneiderte, leistungsfähige und in dieser Form einzigartige technische Plattform für KI-Entwicklungen.

S4 Dissemination: Methodenentwicklung, Rekrutierung, Wissenschafts- und Risikokommunikation

Die Dissemination, also Verbreitung von Erkenntnissen aus den Arbeitspaketen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Neben der wissenschaftlichen Veröffentlichung, die in den einzelnen Arbeitspaketen angestrebt wird, soll dieser projektbegleitende Querschnittsbereich den Einbezug insbesondere schwer zugänglicher Gruppen im Forschungs- und Entwicklungsprozess fördern. Zudem wird in ausgewählten Studien eine partizipative Beteiligung von unterschiedlichen Zielgruppen und die Verbesserung des Wissenstransfers durch geeignete und effektive Kommunikation angestrebt.

S5 Best practice, Datenschutz, Ethik

Der Begriff ELSI steht im Englischen für „Ethical, Legal and Social Implications“ und soll die ethischen, rechtlichen und sozialen Auswirkungen rund um Forschungsprojekte berücksichtigen. Geprägt wurde der Begriff im Rahmen der Gen- und Genomforschung, wird aber seit langem auch außerhalb dieses Bereichs verwendet. In diesem Querschnittsbereich steht die Unterstützung bei der Bewertung von ELSI-Aspekten innerhalb der Arbeitspakete im Fokus. Des Weiteren sollen Synergieeffekte genutzt werden, z.B. bei der Erstellung von Ethikanträgen.